„Andorra“ oder Die Angst vor dem Fremden

Von GRRRRR-Redakteurin Katharina Klasen


Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Hass und Vorurteile sind in Andorra an der Tagesordnung. Das gleichnamige Stück aus der Feder des Schweizer Schriftstellers Max Frisch erlebte am 2. November 1961 seine Uraufführung im Schauspielhaus Zürich – und hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren.

 

Saarbrücken. „Ich habe ihn nicht getötet.“ Mit diesen Worten sprechen sich die Einwohner Andorras von ihrer Verantwortung frei. Sie bedauern, was vorgefallen ist, von einer Schuldzuweisung wollen sie jedoch nichts wissen. Dass „der Jud“ tot sei, gehe nicht auf ihr Konto. „Warum hätte ich mich denn anders verhalten sollen?“

Retrospektive: Andri (Cino Djavid) ist anders. Der, der in die andorranische Gesellschaft nicht so ganz hineingehört. Weil er fremd ist. Weil er als Jude geradezu zwangsläufig nicht in die Gemeinschaft integriert werden kann. Andri wurde als Kind vom Lehrer Can (Klaus Meininger) vor den „Schwarzen“, den Feinden im benachbarten Land, gerettet. Wie sein eigen Fleisch und Blut zog dieser den jüdischen Bub bei sich auf. Vermeintlich. Denn dass Can ein Geheimnis in sich trägt, das auf seiner Seele lastet, wird schnell deutlich. Ebenso augenfällig ist der (mal mehr, mal weniger verhohlene) Hass, der Andri entgegenschlägt: Er sieht sich den boshaften Anfeindungen des Soldaten Peider (Ali Berber) und den antisemitischen Äußerungen des Amtsarztes Ferrer (Thomas Schmidt) ausgesetzt und zudem den Intrigen des Tischlergesellen Prader (Roman Konieczny), durch den er sogar seinen Ausbildungsplatz verliert. Ständig wird Andri mit judenfeindlichen Vorurteilen (etwa Geldgier, Animalität und Falschheit) konfrontiert.

Reine, aufrichtige Zuneigung erfährt er hingegen von Barblin (Yevgenia Korolov), seiner Ziehschwester. Ihre Liebe geht so weit, dass sie planen, zu heiraten. Dieser schöne Traum wird jedoch alsbald von Can – ohne Nennung von Gründen – zerschlagen. Barblins Mutter (Gabriela Krestan), stets bemüht, die Familie zusammenzuhalten, versteht die Weigerung ihres Mannes nicht: „Auch dem Judenretter ist das eigene Kind zu schad für den Jud?!“, wirft sie ihm vor.  Derweil plagen den Protagonisten massive Selbstzweifel: „Wo bin ich denn anders als alle anderen?“, fordert Andri zu wissen. „Ich seh’s nicht! Ich will nicht anders sein!“

Die Dynamik der Saarbrücker Inszenierung unter der Regie von Markus Heinzelmann liegt im gezielten Einsatz der Videokunst. Grigory Shyklyar fängt während des gesamten Stückverlaufs Teile der Bühnenhandlung mit der Live-Kamera ein. Seine Bewegbilder werden in Echtzeit auf eine Leinwand projiziert. Dadurch eröffnet sich den Zuschauern nicht nur eine Multiperspektivität durch mehrere parallel ablaufende Bild- und Handlungsebenen, sondern auch eine ganz neue Art des Theatererlebens. Durch die Close-ups wird eine intensivere Nähe zu den Charakteren hergestellt, Mimik und Details werden sichtbarer. Auch für die räumliche Ausgestaltung des (sowieso sehr atmosphärischen) Bühnenbilds (Nicole Hoesli, Matthias Huser) ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. In Sekundenschnelle werden die Zuschauer mitgenommen ins Ess- oder Wohnzimmer von Andris Familie, in Barblins Badezimmer oder die im amerikanischen Dinerstil eingerichtete Kneipe. Besonders schmerzhaft tritt die Parallelmontage bei Barblins Vergewaltigung in Erscheinung: Während Andri vor der Schwelle der Geliebten wartet und einen Monolog hält, werden die Zuschauer über die Leinwand Zeugen ihrer Schändung durch den Soldaten Peider. Die Kamera fängt ihr Leid gnadenlos ein, wendet sich nicht ab, sondern zeigt Barblins schmerz- und angstverzerrtes Gesicht in ungeschönten Nahaufnahmen.

Furcht ist in Andorra allgegenwärtig. Ängstlich schielen die Andorraner gen Grenze, wo „die Anderen“ hausen. Immer wieder untermalt ein bedrohlich klingendes Donnergrollen die Szenerie und deutet eine sich anbahnende Gefahr an: Das Herannahen der „Schwarzen da drüben“, deren Invasion im „schneeweißen, schuldlosen Andorra“. Eine beängstigende Vorstellung für die Einwohner. Zunächst erscheint jedoch nur eine „Schwarze“: die Senora (Christiane Motter). Mit ihr tritt allerdings eine folgenschwere Wahrheit, das lange sorgsam gehütete Geheimnis des Lehrers, zutage: Andri ist dessen leiblicher Sohn, die Senora seine Mutter. All die Geschichten über Andris jüdische Herkunft entpuppen sich als Lügen; seine Wurzeln mütterlicherseits sind „schwarz“. Diese Erkenntnis stürzt Andri in eine tiefe Identitätskrise. Von Geburt an hat er internalisiert, dass er ein Jude ist und kann sich nun nicht mehr davon lösen. Hier manifestiert sich eine selbsterfüllende Prophezeiung: Weil er sein Leben lang als Jude stigmatisiert wurde, ist Andri nicht mehr in der Lage, diesen Teil seiner Identität abzulegen. Er sieht sich als Juden, nicht als „Schwarzen“. Wobei „schwarz“ lediglich ein weiteres sozial konstruiertes Stigma ist, mit dem Andri aus der andorranischen Gesellschaft ausgeschlossen und rassistisch gelabelt wird. Aus dem Mund eines Kindes offenbart sich in einem metaphysischen Diskurs die erschreckende Begründung für den Hass und die Vorbehalte gegenüber Fremden: Das Fehlen eines Feindes führe zwangsläufig zur Selbstzerstörung des eigenen Volkes. Daher sei das Vorhandensein von Feindbildern eine Notwendigkeit.

Und so darf sich das Saarbrücker Publikum am Ende des Abends die Frage stellen: Wie wollen wir mit Menschen umgehen, die neu in unser Land kommen? Welches Zeichen möchten wir mit unserem Verhalten setzen? Max Frischs Parabel aus dem Jahr 1961 könnte nicht aktueller sein.

 

Fotos: Saarländisches Staatstheater

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