„Der Elefantenmensch“ oder: Der menschliche Idealismus am Abgrund

Von GRRRRR-Redakteurin Katharina Klasen

Von Abscheulichkeiten, Deformation und Anderssein erzählt Bernard Pomerances Theaterstück „Der Elefantenmensch“, das unter der Regie von Michael Talke in der Alten Feuerwache in Saarbrücken zu sehen ist. Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte des entstellten John Merrick zeigt den schmalen Grat zwischen Idealismus, Humanismus, Machtgier und Profitstreben – und wie nah der Abgrund ist, der selbst den aufrichtigsten Menschen in die Tiefe zu reißen droht.

Saarbrücken. Die tragische Geschichte des „Elefantenmenschen“ John Merrick nimmt nahe London ihren Lauf. Barbara Steiner (Bühnenbild) hat die Alte Feuerwache effektvoll in Szene gesetzt und in einen englischen Zirkus um die Wende des 19. Jahrhunderts verwandelt. Auch das Kostümbild (Agathe MacQueen) ist passend zur düsteren Grundstimmung des Stückes gewählt. Robert Prinzler preist als Zirkusdirektor Ross in bester Stummfilmmanier (ohne Ton, dafür mit passender Musikuntermalung und ausladender Mimik und Gestik) seine Attraktionen an. Ein wahres Kuriositätenkabinett: Siamesische Zwillinge, ein gänzlich behaartes Wesen, eine bärtige Frau, ein Zwerg. Dann ist die Hauptattraktion an der Reihe und Ross‘ Stimme für die Zuschauer plötzlich deutlich hörbar: Er berichtet von John Merrick, einer verschmähten Kreatur, verloren, verdammt und seelisch verzweifelt. Doch bevor Ross Merrick der geiernden Menge präsentieren kann, greift der junge Arzt und Dozent für Anatomie Frederick Treves (Georg Mitterstieler) ein. Er wünscht, Merrick „im Interesse der Wissenschaft“ zu sehen, hält Ross eine Moralpredigt: „Was Sie zeigen, ist abscheulich!“ und bietet ihm Geld an, um Merrick im Hospital untersuchen zu dürfen. Ross möchte nicht auf „sein Kapital“ verzichten, lässt sich aber dennoch auf einen finanziellen Deal mit Treves ein.

Erster Auftritt des Elefantenmenschen. Der physisch deformierte John Merrick (Roman Konieczny) tritt in die Manege – und das schaulustige, sensationsgeile Publikum gafft. Doch schnell machen sich Entrüstung und Enttäuschung breit: „Der kann ja gar nix!“ Denn Merrick ist „einfach nur da“, zeigt aber keine spektakulären Kunststücke oder sonstigen Erstaunlichkeiten. Das (zahlende?) Publikum wünscht mehr: mehr Attraktion, mehr Absonderlichkeit, mehr Perversion, mehr Spektakel.

Die Rollen der Ausgestoßenen, der am Rande der Gesellschaft Stehenden sind Schauspieler Roman Konieczny auf den Leib geschrieben, wie er bereits in anderen Stücken am Saarländischen Staatstheater (etwa in „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“) eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte. Sein Spiel bleibt wirkungsvoll im Gedächtnis. Er verleiht John Merrick eine unglaubliche Verletzlichkeit und Sympathie. Anfangs gibt Merrick nur Geräusche von sich, vorwiegend ein mitleiderregendes Röcheln. Sein Gesicht ist starr, kann keine Emotionen zeigen. Zunächst attestiert Treves ihm Schwachsinn („Ist wahrscheinlich besser.“). Der mitfühlende und idealistische Arzt möchte der „Kreatur“ wirklich helfen. Als Treves Merrick seinen Kollegen bei der anatomischen Gesellschaft vorführt, schauen diese peinlich berührt weg. Rasch wird dem Zuschauer klar: Treves stellt Merrick ebenso zur Schau wie es zuvor Ross tat – wenn auch, so macht er sich wohl selbst glauben, aus hehren Motiven.

Durch die Therapiesitzungen kommen Treves und Merrick sich näher. Der junge Arzt wird in Erstaunen versetzt. Nicht nur, dass eine nonverbale Verständigung mit Merrick möglich ist, nein, dieser kann sogar mittels seiner Stimme kommunizieren. Zunächst kostet Merrick das Sprechen einige Anstrengung, dann spricht er mit einer erstaunlich klaren, gut verständlichen Stimme. Doch anstatt sich über diese Entwicklung zu freuen, denkt Treves bloß an die weitere finanzielle Förderung durch den Aufsichtsrat des Krankenhauses. Er fordert von Merrick: „Sie müssen behinderter klingen! … Sie müssen mehr rühren.“ Es ginge darum, Mitleid zu erregen, um einen Platz für ihn in der Gesellschaft zu finden.

Merrick kann jedoch nicht nur sprechen, sondern auch lesen und Bibelverse rezitieren. Sein Wunsch: als Mensch wahrgenommen zu werden. Aber alle versuchen, von ihm und seiner Andersartigkeit zu profitieren. Das Hospital mutiert zur Freakshow. Ein Concierge kündigt jeden Abend die Hauptattraktion an: Merrick! Und auch Klaus Müller-Beck als Angst einflößender und irre wirkender Krankenpfleger Willi Porter macht sein Geschäft mit Merrick und lässt Schaulustige dafür zahlen, „das Monster“ im Hospital zu sehen. Einzig in der Schauspielerin (wunderbar sarkastisch und erfrischend von der wunderbaren Gertrud Kohl gemimt) findet Merrick – vermeintlich?! – eine Freundin. Die beiden fachsimpeln über „Romeo und Julia“, rezitieren und interpretieren. Als erste Person schüttelt sie Merricks entstellte Hand – ein Vertrauensbeweis.

Während Treves sich selbst belügt und vormacht, aus idealistischen Motiven zu handeln, sieht sein Chef (Marcel Bausch) seine Bemühungen um Merrick klarer: „Sie wollen sich selbst mit ihm einen Namen machen!“ In der Tat verändert sich Treves zum Negativen. Sein Verhalten und sein Charakter nehmen dämonische, besessene Züge an. „Wenn Eure Barmherzigkeit so grausam ist, wie ist dann Eure Gerechtigkeit?“ Merricks Frage sticht treffsicher ins Herz der Zuschauer. Während Merricks unversehrte, unverfälschte Menschlichkeit immer stärker zum Ausdruck kommt, steuert Treves auf sein selbst entzündetes Höllenfeuer zu, das ihn zu verschlingen droht. Zwar befindet er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere (er wird geadelt und zum Leibarzt des Königs berufen), doch nennt er dies lediglich eine „Entschädigung“. Der einstige Idealist ist nicht nur in einem moralischen Dilemma gefangen, nein, er wird von krankhafter Paranoia geplagt und von seinen inneren Dämonen heimgesucht, den Schatten seiner Profitgier, dem Odium seiner Seele. In diesem Sinne ist er ein Abbild – oder Opfer?! – unserer auf Besitz und Leistung fixierten Gesellschaft.

 

Fotograf: Thomas M. Jauk

Der Elefantenmensch

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