In den Köpfen der anderen

Teil 1

Im Rahmen des achten PRIMEURS-Festivals in Saarbrücken hatte das Saarländische Staatstheater ein ganz besonderes Gastspiel auf dem Programm. Das Ensemble des Begat Theaters präsentierte erstmals seine interaktive Inszenierung „Histoires Cachées / Gedanken-Gänge“ auf deutschem Boden.

Saarbrücken. Mein Handy piepst. Ich nehme es aus der Tasche und betrachte das Display. Ich habe eine SMS erhalten. „Treffpunkt in der Bahnhofstraße, Ecke Schifferstraße. Bitte warten Sie vor Ort bis einer unserer Männer Kontakt zu Ihnen aufnimmt. Passwort: Sie sind nicht allein.“ So lautet die geheimnisvolle Botschaft.

Pünktlich um 14.30 Uhr habe ich mich zu besagter Stelle begeben und blicke mich neugierig um. In einiger Entfernung spricht ein Mitarbeiter des Zentralen Kommunalen Entsorgungsbetriebs (ZKE), erkennbar an der orange-blauen Kluft, zwei junge Frauen an. Ich verstehe nicht, was er sagt, stutze jedoch angesichts der auf Englisch erfolgten Kontaktaufnahme. Der Mann deutet in Richtung der Galeria Kaufhof. Die Mädchen nicken, verabschieden sich und schlagen den gewiesenen Weg ein. Der Mann schaut sich um, entdeckt nun mich und kommt auf mich zu. Ob ich Deutsche bin, fragt er mich auf Englisch. Ich nicke. Wie das Passwort laute, möchte er von mir wissen. „Sie sind nicht allein“, sage ich. Dieses Mal ist er es, der nickt. Wie bereits zuvor bei den beiden jungen Frauen deutet er auf das Gebäude der Galeria Kaufhof. Ich solle dorthin gehen. Ich würde schon erwartet. Also mache auch ich mich auf den Weg.

Neben der Eingangstür des Warenhauses stehen zwei Mitarbeiterinnen des Saarländischen Staatstheaters und verteilen Tonbandgeräte und Kopfhörer. Auf dem Tonbandgerät klebt ein kleiner Umschlag, auf dessen Oberseite das Symbol einer Zeitung prangt. Was es damit auf sich hat, erklärt der Mann in der ZKE-Kleidung, der sich als Jacques und Schauspieler des Begat Theaters vorstellt. Mein Verdacht, dass der Mann nicht wirklich ein Mitarbeiter des ZKE ist, hat sich somit bestätigt. Jacques erklärt, dass sich auf jedem Tonbandgerät Symbole befinden: eine Zeitung, eine Orange, ein Kugelschreiber und eine Streichholzschachtel. Wir würden uns jetzt gleich auf den Vorplatz der Europa-Galerie begeben. Dort würden wir unser Symbol (in meinem Fall die Zeitung) finden und sollten ihm fortan folgen, egal, was geschehe. Es sei wichtig, den jeweiligen Gegenstand nicht mehr aus den Augen zu lassen. Außerdem gab Jacques einen weiteren wichtigen Hinweis: „Wir befinden uns in einer echten Stadt. Also seid vorsichtig! Auch die Autos sind echt.“

Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, kurz zu erläutern, auf welches Abenteuer ich mich hier eingelassen habe. Im Rahmen von PRIMEURS, dem Festival frankophoner Gegenwartsdramatik, das in diesem Jahr bereits zum achten Mal in der saarländischen Landeshauptstadt veranstaltet wird, findet heute, am 21. November 2014, ein ganz besonderes Gastspiel des Begat Theaters statt: „Histoires Cachées“ beziehungsweise „Gedanken-Gänge“, wie die deutsche Adaption heißt. Auf der Festival-Webseite wurde dieses Ereignis wie folgt angekündigt:
„Gedanken-Gänge ist eine Performance auf den Straßen einer Stadt. Mit Kopfhörern ausgestattet, können die Zuschauer während der Aufführung den Gedanken verschiedener Passanten auf der Straße folgen. […] Die Stadt wird zur Filmkulisse, das Auge des Betrachters zum Kameraobjektiv und der Betrachter selbst wird zum Cutter […]. Es steht ihm frei, die Geschichte von Nahem oder aus der Ferne zu verfolgen, jedes Detail, jeden Lidschlag anzuschauen oder sich lieber von der Imagination leiten zu lassen und sich vom Geschehen auf der Straße abzuwenden.“
Das klang interessant und innovativ. Also meldete ich mich zu der Aufführung an, nichtsahnend, was mich erwarten würde. Klar war nur: „Gedanken-Gänge“ ist keine normale Inszenierung, die in einem Theater aufgeführt wird, stattdessen erfolgt die Performance mitten im Herzen Saarbrückens, eingebettet in eine reale Umgebung. Das Konzept stammt von Karin Holmström, Dion Doulis und Erika Latta. Seit 2010 wurde „Histoires Cachées“ über 150 Mal in Frankreich gezeigt, 2012 und 2013 wurden englische Fassungen in Sydney und New York aufgeführt. In Saarbrücken findet an diesem 21. November 2014 die deutsche Erstaufführung statt. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsproduktion des Begat Theaters mit dem Saarländischen Staatstheater, dem Le Carreau in Forbach, SR2 Kulturradio und dem Institut d’Etudes Françaises in Saarbrücken. Die deutsche Tonspur wurde von Marcel Bausch, Gabriela Krestan, Georg Mitterstieler und Christiane Motter (alle Schauspieler des Saarländischen Staatstheaters) eingesprochen. Doch gehen wir nun wieder in medias res.

Meine Mitstreiter (ca. 40 deutsch- und französischsprachige Menschen) und ich sind inzwischen auf dem Vorplatz der Europa-Galerie angekommen und haben unsere Kopfhörer aufgesetzt. „Sehen Sie die Zeitung?“ werde ich über Kopfhörer gefragt. Ich blicke mich um. Noch ist nichts zu sehen. „Sehen Sie die Zeitung jetzt?“ Nein, immer noch nicht. „Dann öffnen Sie nun den Umschlag.“ Ich öffne das kleine Kuvert, das am Tonbandgerät klebt. Ein kleiner Fotoschnipsel befindet sich darin. Der Eingang der Europa-Galerie ist darauf zu sehen. „Begeben Sie sich nun an diesen Ort. Dort befindet sich die Zeitung“, vernehme ich über den Kopfhörer. Ich setze mich in Bewegung und einige Schritte später stehe ich vor dem Eingangsportal und sehe mich um. Noch immer keine Zeitung in Sichtweite. Doch halt! Da! Aus dem Konsumtempel kommt ein junger Mann in einem schnoddrigen Anzug heraus, einen Rollkoffer hinter sich herziehend – und eine Zeitung unter dem Arm. Was hatte Jacques, der vermeintliche ZKE-Mitarbeiter, zuvor gesagt? „Folgen Sie dem Objekt, wenn Sie es sehen, und lassen Sie es nicht mehr aus den Augen.“ Also nehme ich die Verfolgung auf.

Der junge Mann geht ein paar Schritte, schaut sich um und bleibt dann stehen. Ich ebenfalls. Und plötzlich tauchte ich über die Kopfhörer in seine Gedankenwelt ein. Sein Name ist Colin Blackwell, er ist fremd in dieser Stadt und über 500 Kilometer gereist, um hier eine Frau namens Susanne zu treffen. Doch je länger ich Colins Gedanken höre und dazu sein oft abschätzig dreinblickendes Gesicht betrachte, desto mehr beginne ich mich zu fragen, ob mir dieser Kerl sympathisch ist. Er wirkt sehr von sich selbst eingenommen. Geradezu machohaft sind seine Überlegungen, als er an einen möglichen One-Night-Stand denkt. „Ich hab’s im Gespür. Heute Abend leg‘ ich eine flach.“ Gedankenversunken flaniert er in den Saarbrücker Hauptbahnhof hinein – mich und etwa sieben weitere Performance-Zuschauer im Schlepptau. Als er wieder aus dem Bahnhofsgebäude hinaustritt, entdecke ich einige Meter entfernt eine junge Frau in einem weißen Trenchcoat, die in der einen Hand eine Einkaufstasche trägt und in der anderen eine Orange hält. Um sie herum stehen etwa zehn Personen mit Kopfhörern und Tonbandgerät. Während ich Colin mit seiner Zeitung gefolgt war, hatte sich diese Teilnehmergruppe der Dame mit der Orange an die Fersen geheftet. Colin und die Frau kommen miteinander ins Gespräch. Auf einmal befindet sich die Zeitung in ihren Händen. Sie verabschiedet sich von Colin und geht davon, das Printprodukt noch immer in den Händen. Nun folge ich ihr und lasse Colin Blackwell, den Macho, hinter mir. Schließlich galt es, der Zeitung zu folgen, nicht ihm.

Doch die Gedanken der jungen Frau stellen sich rasch als erschreckend heraus. Emma Ducourtois ist von einer Traurigkeit und Verzweiflung erfasst, die sie dazu bringt, ihr ganzes Leben als sinnfrei in Frage zu stellen. „Würde es überhaupt jemand bemerken, wenn ich nicht mehr da bin?“, fragt sie sich. Als stiller Teilhaber an ihren Gedanken erfahre ich, dass sie Mann und Kinder hat. Doch glücklich ist sie nicht. Mechanisch und pflichtbewusst wie ein Roboter erledigt sie alle Aufgaben als Ehefrau und Mutter – aber etwas (vielleicht die Tristesse des Alltags?) scheint sie unausweichlich auf einen Abgrund zuzuziehen. Ziellos, das Gesicht voller Kummer, eilt Emma durch Saarbrückens Straßen – und wir als Gruppe mit Kopfhörern auf den Ohren hinterher. Das Interessante an Emma ist, dass sie im Stadtgetümmel unter all den anderen Passanten überhaupt nicht auffällt. Hätte sie nicht die von Colin überreichte Zeitung in der Hand, die sie für uns Tour-Teilnehmer als Schauspielerin ausweist, ginge sie einfach in der Anonymität der Stadt und der Masse unter. Während ich weiterhin ihren deprimierenden und beklemmenden Ansichten lausche, schaue ich mich aufmerksam um. Auf einmal nehme ich die Welt um mich herum ganz anders wahr. Ich beginne mich zu fragen, welche anderen Menschen, die die Straße auf und ab eilen, auch Schauspieler des Begat Theaters sein könnten. Ein jeder von ihnen könnte Teil dieser Performance sein. In einem gewissen Sinne ist er es sogar: Für mich sind sie alle, ohne es zu wissen, Statisten in diesem innovativen und interaktiven Theaterstück.
Auf einer kleinen Mauer lässt Emma die Zeitung plötzlich liegen und geht davon. Gespannt bleiben meine Mitstreiter und ich stehen. Was wird nun geschehen? In wessen Besitz wird die Zeitung jetzt wandern? Welcher Charakter wird sich uns als nächstes offenbaren? Ein paar Sekunden lang passiert gar nichts. Dann taucht eine junge Frau mit schwarzem Haar, grauem Mantel und grünem Schal auf, die die Zeitung interessiert durchblättert: Tamina… Fortsetzung siehe „Teil 2“

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