Von Menschen und (Kriegs-)Maschinen

Ein Hallelujah dem AGORA-Theater! In Trier zeigte ein höchst engagiertes Ensemble um „Die Kreuzritter/Les Croisés“ Marcel Cremers brillantes Schauspiel um Krieg, Religionstherapie und beider Folgen. Dabei wurde selbst das Publikum für eigennützige Zwecke instrumentalisiert. Und war am Ende schockiert über die immer noch brandaktuelle Macht der Missionierung.

Freundlicher Empfang an der Eingangstür zum Theatersaal: Schwester Violetta (Viola Streicher) und Schwester Klara (Katja Wiefel) verteilen Tombola-Lose an die Zuschauer – später gibt es eine CD und Kuchen zu gewinnen! Das Publikum sitzt mit auf der Bühne, nahe an der schlicht gehaltenen Auftrittsfläche. Dort steht Mama Zara (Zoé Kovacs), die Oberschwester des Hospizes St. Johanna, die alle herzlich zur Benefizveranstaltung empfängt. Sie findet heute im Theater Trier statt, Mama Zara bedankt sich dafür ehrfürchtig. Wie eine Vertreterin stellt sie uns nacheinander die Patienten und Therapiemethoden zur Lösung von Kriegstraumata vor. Die sechs Männer machen alles mit, wie kleine Zirkushündchen, wohl dressiert. Und geht doch einmal etwas schief, was ja schon mal passieren kann, wie etwa ein kurzer triebgesteuerter Vergewaltigungsversuch der Schwester Violetta durch Patienten Mirko (Matthias Weiland), wird im Nu gemaßregelt, damit die Männer sofort aus ihren Fehlern lernen. Zur Versöhnung gibt es ein Küsschen und es wird gesungen, um den Herrn zu preisen. „Und jetzt alle zusammen!“, ruft Mama Zara beflügelt und fordert das Publikum zum Mitsingen bekannter Kirchenlieder auf. Und es gelingt. Der ganze Saal singt gemeinsam: „Danke für diesen guten Morgen. Danke für jeden neuen Tag…“

Doch inmitten des harmonischen Chors macht sich unterschwellig ein Widerstreben in der Magengegend bemerkbar. Die Illusion der Benefizveranstaltung ist mittlerweile so täuschend echt, dass es sich anfühlt, als werde wahrhaftig um die Gunst des Publikums für den christlichen Glauben geworben. Eine Missionierung, ein Kreuzzug. Die Patienten haben dies schon durchlaufen, als sie für ihren Glauben, ihr Land in den Krieg zogen. Geschädigt kamen sie zurück und fanden in den Armen Mama Zaras Rettung. Denn nur mit Hilfe dieser „Hirtin“ – und somit mit Gottes Beistand – können die „Schäfchen“ errettet werden vom Horror ihrer Vergangenheit. Durch die Therapiemethoden sollen die Männer zurück zu Glauben und Leben finden.

 Ein Beispiel hierfür: Mittels der Tränentherapie sollen die Männer ihren Angst- und Schuldgefühlen freien Lauf lassen. Frontal zum Publikum werden fünf von ihnen auf Stühlen platziert, ein Taschentuch in der Hand. Ganz links sitzt der unter Zwängen leidende Albert (Andreas Schmid), neben ihm der Geschichtenerzähler Conrad (Kurt Pothen). Die Mitte bildet der entscheidungs- und menschenscheue Serge (Sascha Bauer), gefolgt vom hyperaktiven Emile (Eno Krojanker). Ganz außen rechts ist Mirko. Unter fast schon psychedelischer musikalischer Begleitung durch Patient Daniel (Dirk Schwantes), dessen motorische Störung sich durch extreme Langsamkeit auszeichnet, versuchen die Patienten zu weinen. Es wirkt komisch. Die Ticks der einzelnen Männer, die sie individuell und sympathisch machen, lassen noch schmunzeln: Emiles breites Grinsen, Alberts Finger, der sich telegraphisch nach oben und unten bewegt, Conrad, der sich seine Frisur fein nach vorne striegelt, Serge, dessen zitterndem Bein mehrere Male durch Mama Zara Einhalt geboten werden muss, Mirkos grimmige Art und im Hintergrund Daniels beschwörender Gesang. Doch auf einmal verändert sich etwas: Die Augen der Patienten füllen sich mit Tränen. Bis auf Mirko steigern sie sich nach und nach in ein aufgelöstes Plärren hinein. Das bewegt und zeugt von einem immensen Trauma, das hinter den einzelnen Gesichtern stecken muss.

Komik und Entsetzen reichen sich während des gesamten Stückes ununterbrochen die Hand. Sie liegen nah beieinander und reißen die Zuschauer mit. Diese Wirkungsmacht ist vor allem der enormen Bühnenpräsenz der Darsteller geschuldet. Mit vollem Körper- und Stimmeinsatz führen sie durch das Leben der Kriegsüberlebenden und deren alltäglichen Kampf. Komplette Heilung ausgeschlossen. Doch irgendwann werden sie so weit sein, dass der eingeflößte Glaube stärker ist als ihr Trauma. Und sie werden bereit sein, bereit für einen neuen Kreuzzug. Und trotz aller Menschlichkeit, die durch die christlichen Schwestern suggeriert wird, ist die schreckliche Wahrheit eine andere: Nicht der Mensch an sich zählt, sondern seine Bereitschaft, für seinen Glauben, für seine Überzeugung erneut in einen Krieg oder gar in den Tod zu ziehen. Ein Thema, das auch heute nicht an Brisanz verloren hat. Grrrrr hat darüber mit Kurt Pothen, Conrad-Darsteller und dem künstlerischen Leiter des AGORA-Theaters, gesprochen.

 

Grrrrr: Wie kam es zu dem Thema der Kreuzritter?

 Kurt Pothen: Der Ursprung findet sich schon 2001 mit dem 11. September, als die Flugzeuge in die Türme des „World Trade Centers“ geflogen sind. Schon da war dem Regisseur Marcel Cremer und uns klar, dass dieses Ereignis sehr, sehr weitreichende Folgen haben wird, nicht nur für die vermeintlichen Terroristen, sondern für die gesamte Welt und die Politik. Und es dauerte nicht lang, da sprach der damalige US-Präsident Bush auch schon von den ersten Kreuzzügen, die jetzt wieder stattfinden werden und von dem Kampf der guten Welt gegen die böse Welt. Marcel hat diese Polarisierung damals schon vorausgesagt. Und die trat dann auch sehr schnell ein. Damit war klar, dass wir als Theater dazu Stellung beziehen werden. Wir haben allein über ein Jahr daran gearbeitet, ein Stück zu diesem Thema zu entwerfen und daraus sind dann „Die Kreuzritter“ geworden. Es hat bis 2005 gedauert, bis das Schauspiel dann auf eigenen Beinen stand.

 

Es hat ja auch immer noch aktuellen Bezug und passt gut auch in die heutige Zeit.

 Deswegen spielen wir es nach zehn Jahren auch immer noch.

 

Habt ihr das Stück komplett wiederaufgenommen oder auch zwischendurch gespielt?

 Es wurde von uns eine Zeit lang ganz intensiv bespielt, drei Jahre lang sehr intensiv mit über 200 Aufführungen. Wir haben es auch 2006 in Avignon auf dem Off-Festival gezeigt. Es folgten Vorführungen in ganz Frankreich, Deutschland und Belgien. Ab 2009 wurde es dann etwas ruhiger, aber wir haben es trotzdem noch jedes Jahr gespielt, auch wenn es nur ein bis zwei Aufführungen waren. Jetzt, mit dem hundertjährigen Gedenken an den Ausbruch des ersten Weltkriegs, ist es nochmal von vielen Veranstaltern angefragt worden.

 

Es war also schon kontinuierlich in eurem Programm zu finden. Auch mit demselben Personal?

 Die jetzige Besetzung ist in der Tat die Urbesetzung. Zwischendurch gab es mal kurze Wechsel, aber letztendlich es sind doch immer die Alten geblieben. Es gibt einen Film im Stück und da sieht man doch schon den Altersunterschied. (lacht)

 

Dann seid ihr ja sehr alte Bekannte. Beschreib‘ doch mal eure Arbeitsweise. Wie seid ihr, zusammen mit Marcel Cremer, an Thema und Stück herangegangen?

 Marcel Cremer hat mit der AGORA das autobiographische Theater entwickelt. Das ist eine Arbeitsmethode, die er über 30 Jahre mit der Gruppe entwickelt hat. Diese Methode basiert darauf, dass – in einem Satz zusammengefasst – alle Figuren der Weltliteratur in jedem Menschen stecken. Man muss sie nur finden, die richtigen Fragen stellen und die richtigen Bezüge zur eigenen Vergangenheit, zur eigenen Biographie herstellen. Dadurch erhält man nicht nur die Legitimation, um über das Thema auf der Bühne reden zu können, sondern auch um festzustellen, was das mit MIR zu tun hat, was ICH auf der Bühne zu sagen habe. Das pflegte Marcel auch immer zu sagen. Laut ihm hat jemand, der nichts zu sagen hat, auch nichts auf der Bühne verloren. „Die Kreuzritter“ entwickelten wir für neun Spieler, um zu wissen: „Wo treffen wir uns denn? Für was können wir alle gemeinsam auf der Bühne einstehen?“ Hierfür dient die Methode des autobiographischen Theaters sehr gut.

 

 Habt ihr spezielle Rituale?

 Es ist so, dass wir uns die erste Woche in völlige Abgeschiedenheit zurückziehen und uns wirklich eine Woche lang nur mit uns und den privaten Geschichten beschäftigen. Von denen kommt am Ende keine einzige in dieser Form auf die Bühne, es ist also nicht wie im biographischen Theater, wo nach Geschichten gesucht wird, die man auf der Bühne erzählen kann. Die Geschichten, die wir uns aus unserem Leben erzählen, kommen niemals auf die Bühne. Sie dienen nur zur persönlichen Rollenarbeit.

 

Bezogen auf deinen Charakter: Wie war es, deinen Charakter, Conrad, durch diese Methode kennenzulernen?

 Naja, das eben genannte ist die erste Phase, die „Ich-Phase“, die Ich-bezogene Phase. Die zweite Phase, die „Arbeitsphase“, ist die sogenannte „Du-Phase“. In dieser Phase entdecke ich eine Figur und trete mit ihr in einen Dialog. Sie ist ein Teil von mir, aber eben nicht Ich! D. h., dieser Dialog zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ wird etabliert. Und das macht natürlich total Spaß. Egal, ob die Figur böse ist oder gut oder dumm. Sie zu entwickeln macht einfach unheimlichen Spaß, weil man sich austoben kann und der Ursprung in einem selbst schon liegt.

 

Eine abschließende Frage: Was bedeutet es denn für euch, hier beim TTT mitzumachen?

 Wir sind ja schon Partner gewesen und arbeiten auch eng mit den Theatern von Luxemburg,  Trier, Saarbrücken, Thionville und Lüttich zusammen. Es war in weiten Teilen eine sehr bereichernde Erfahrung. Das bedeutet uns sehr viel, weil es der Abschluss  von drei intensiven Jahren ist, in denen viel passiert ist. Es hat viel gute Zusammenarbeit stattgefunden. Nicht alles ist rund gelaufen, es hätte einiges noch runder laufen können, aber dafür ist ja vielleicht das nächste Projekt da. Wir freuen uns in jedem Fall darüber, dass Menschen aus der gesamten Großregion kommen. Es hat funktioniert. Man trifft sich hier in Trier, in Thionville und Luxemburg im Rahmen des Total Theater Treffens. Ein gutes Konzept, dass hoffentlich auch ein paar Belgier angezogen hat.

 

Bestimmt. Eine Frage kommt mir da noch spontan: Wohnt ihr eigentlich alle in Belgien oder kommt ihr je nach Bedarf dorthin?

 Ein Großteil von uns wohnt dort. Aber nicht im deutschsprachigen Gebiet, weil das ein sehr kleines, ländliches Gebiet ist, nicht weit von hier, nur ca. 90 km. Wir haben Spieler, die leben in Brüssel, in der Großregion, in Köln, in Duisburg, in Hannover, in München, in Paris. Wir kommen dann einfach immer wieder zusammen.

 

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