Wenn die Erinnerung erlischt

Berührend: Joop Admiraals „Du bist meine Mutter“ in der Sparte4

Von GRRRRR-Redakteurin Katharina Klasen

Den eigenen Eltern beim Verlust ihrer Erinnerung und somit ihrer Identität hilflos zusehen zu müssen, ist eine der schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Der niederländische Schauspieler, Autor und Filmemacher Joop Admiraal hat seiner an Demenz erkrankten Mutter mit dem Bühnenstück „Du bist meine Mutter“ ein berührendes und tieftrauriges Denkmal voller Liebe gesetzt.

Saarbrücken. Wie ein Zug rauschen die Kindheitserinnerungen unseres Protagonisten an ihm vorbei – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn er ist gerade mit der Bahn unterwegs, als auf die Bühne projizierte Schlaglichter aus seiner Kindheit erscheinen. Diese war allem Anschein nach von Harmonie und Fröhlichkeit bestimmt. In den historischen Aufnahmen sieht man ihn und seinen älteren Bruder oft ausgelassen in die Kamera lachen. Auch die Szenen mit der Mutter lassen auf ein ungetrübtes Familienglück schließen. Doch diese Augenblicke sind lange vorbei, wie ein Blick auf das Bühnenbild verrät. Die Kulisse: Links ein Krankenbett, rechts: ein Tisch und zwei Stühle (die im späteren Verlauf die Parkanlage der Pflegeeinrichtung markieren werden).

Schauspieler Marcus Mislin betritt in der Rolle des in die Jahre gekommenen Sohnes die Bühne. Den Blick in die Vergangenheit gerichtet, berichtet er von der ersten Auflehnung gegen seine Mutter als kleiner Dreikäsehoch: Stets entsandte sie ihn samstagsmittags zum Einkaufen, während seine Freunde spielen durften. Eines Tages beschloss das junge Bürschlein, sich dieser Aufgabe zu verweigern. Eine Erinnerung, die all die Jahre überdauert hat und im Gedächtnis haften geblieben ist. Dann konzentriert sich der Sohn auf das Heute. Mit einem Blumenstrauß betritt er das Krankenzimmer der Mutter. Wie jeden Sonntag kommt er zu Besuch, ein Ritual. Die Blumen erfüllen dabei nicht nur die höfliche Geste eines Gastgeschenkes, darüber hinaus setzt der Sohn sie bewusst als zeitlichen Marker ein: „Damit du weißt, dass du Besuch bekommen hast“, sagt er zu ihr. Ein erster Hinweis auf das schwindende Erinnerungsvermögen der geliebten Mutter. Immer wieder verwechselt sie im Laufe des Stückes Dinge und Personen, worauf er sie behutsam hinweist und die korrekten Sachverhalte und familiären Beziehungen erläutert. Sein Umgang ihr gegenüber ist dabei von Liebe, Verständnis und ruhiger Bedachtheit geprägt.

Was Joop Admiraals Bühnenstück „Du bist meine Mutter“ neben der ergreifenden Thematik so besonders macht, ist die Tatsache, dass Marcus Mislin abwechselnd in die Rolle des Sohnes und der Mutter schlüpft. Außer ihm gibt es keine anderen Darsteller. Mislins Schauspielkunst ist beachtlich, ihr gebührt großer Respekt. Die ständigen Rollen- und somit auch Perspektivwechsel meistert er glaubwürdig und überzeugend. Er spielt nicht nur den traurig-verzweifelten Sohn, sondern fühlt sich mit einer beeindruckenden Intensität in die Rolle der Mutter ein. Mit bedachter Gestik und Mimik zeichnet er den geschwächten Körper der 92-jährigen nach. Das ständige Zittern wirkt authentisch, sein ganzes Spiel bedrückend. Da die Mutter für den Spaziergang durch den Park eine angemessene Garderobe benötigt, schlüpft Mislin nach und nach in Frauenkleidung (Strumpfhose, Rock, Bluse, Mantel). Und was skurril oder gar lächerlich wirken könnte, lässt Mislin glaubhaft und beklemmend werden. Man hat nicht den Eindruck, einen kostümierten Schauspieler vor sich zu haben, sondern das Gefühl, tatsächlich die Mutter zu sehen. Eine Mutter, die auf erschreckende Weise immer mehr von sich selbst verliert. An manche Erinnerungen klammert sie sich wie eine Ertrinkende an eine Holzplanke, etwa an die bereits verstorbene große Schwester, die in ihrem Denken noch am Leben ist. Wer Albert Einstein war, muss sie sich von ihrem Sohn erklären lassen: „Ein Physiker, der hat die Zeit durcheinander gebracht.“ Die schlichte und doch grausam-wahre Antwort der Mutter: „So wie ich.“

Die Parkszene ist traurig, als der Mutter bewusst wird, dass sie sich an viele Dinge nicht mehr erinnern kann. Wann immer sie dies resigniert registriert, versucht ihr Sohn sie mit geschmacklichen Sinneseindrücken zu beruhigen. Und tatsächlich: der mitgebrachte Pudding und das Trinkpäckchen heben die Stimmung der Mutter wieder an und lassen neue Erinnerungsfetzen aufkommen. Der Pudding hilft ihr, sich an Bekanntem festzuhalten. „Hast du noch einen Pudding?“ Das Ende des Stückes ist jedoch beklemmend: Die Mutter fällt aus dem Bett, verletzt sich und muss fortan aus Sicherheitsgründen über Nacht festgebunden werden. Sie nimmt wahr, was mit ihr geschieht; herzzerreißend flüstert sie: „Ich muss hier weg!“ Die Zuschauer bleiben betroffen und traurig zurück. Und der eine oder andere mag daran gedacht haben, die noch verbleibende Zeit mit seinen Familienangehörigen sinnvoller und bewusster als vielleicht zuvor zu nutzen und zu genießen. Marcus Mislin gebührt Respekt für sein eindrucksvolles und ehrliches Spiel.

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