Achtung, Qualitätskontrolle!

Ein reales Schauspiel über das Risiko, das Spiel des Lebens zu spielen

Eine Sekunde unachtsam. Eine Sekunde „Merde!“ gedacht. In der nächsten, gelähmt – von Kopf bis Fuß. Das Leben scheint zerstört…Oder? „Rimini Protokoll“ präsentiert am ersten Perspectives-Wochenende (24./25.5.14) mit „Qualitätskontrolle“ einen praxisnahen Lösungsvorschlag, der den Zuschauer im Entsetzen lächeln lässt.

Der Zuschauer betritt den Theatersaal. Unweigerlich passiert er die Bühne und sieht dort bereits die Hauptdarstellerin. Ganz in Weiß gekleidet, mit rot-weiß karierten Stoffschuhen, thront sie auf einem elektrischen Rollstuhl, beäugt die Hereintretenden. Das Bühnenbild lässt die Umrisse eines Schwimmbeckens erkennen: Die Bühnenmitte symbolisiert den Grund, der Außenbereich ist eine befahrbare Rampe mit einer Trittleiter als Verbindungsglied. Wer vorab das Programmheft studiert hat, versteht die Zusammenhänge: Maria-Christina Hallwachs (39) ist querschnittsgelähmt, vom Halse ab, seit 21 Jahren. Tatort: Swimmingpool. Köpfer ins Nichtschwimmerbecken. Genickbruch. Träume zerstört. Für immer an den Rollstuhl gefesselt.

Jedem im Raum ist klar: Dies ist kein normales Theaterspiel. Maria wird am Ende nicht aufstehen, sich verbeugen und in zügigen Schritten von der Bühne gehen. Sie „spielt“ sich selbst. Eine schwerstbehinderte Frau. Und das ist auch so gewollt. Bei dem Theaterkollektiv „Rimini Protokoll“ sprengen stets wahre Geschichten und reale Menschen das theatrale Rahmengerüst. Wer sich jetzt allerdings auf einen tragischen Erzählabend entlang der Mitleidsschiene einstellt, der wird bald enttäuscht. Maria-Christina erzählt ihre Geschichte auf ihre ganz eigene Art. Bewegend und – wahrhaftig – in ständiger Bewegung.

„Bewegung war immer meine Welt“

Sie sagt diese Worte ganz nüchtern. Sie verweisen auf die Zeit vor dem Unfall. Betretenes Schweigen macht sich im Publikum breit. Da setzt sich Maria plötzlich in Bewegung: Sie rast mit ihrem Rollstuhl innerhalb von 40 Sekunden einen vorgezeichneten Parcours auf der Bühne entlang Sie passt dabei die Bewegungsmöglichkeiten ihrem Zustand an, bedient die Technik mit Kinn und Mund. Spielerisch leicht, so scheint es, tippt sie in der nächsten Szene mit einem verlängerten Mundstück ein Gedicht auf dem Computer und versenkt später mit Pfleger Admir Schiffe in der Bühnenmitte. In einer anderen Szene spielt sie mit Pflegerin Timea „Inklusion“: Die Bühne wird zum Fußballfeld, „Timmi“ zur temporär blinden Gegnerin und Maria-Christinas Rollstuhl zur Schussfläche. 2 : 2 Endstand. Völlig ausgeglichen. Der Zuschauer vergisst ab und an völlig, dass er eine schwerstbehinderte Frau der Pflegestufe 3Plus vor sich hat.

„Hauptsache gesund“ 

So erzählt sie etwa eine Anekdote, die ihr in der inklusiven Dorfgemeinschaft „Tennental“ (bei Tübingen) widerfahren ist. Sie besucht dort ihre geistig behinderte Schwester. Deren Mitbewohnerin fragt Maria, ob sie ihre Beine bewegen könne. Sie verneint, das Publikum schweigt betreten. „Kannst du deine Arme bewegen?“ – „Nein“, lautet Marias Antwort. Man kann sprichwörtlich die Nadel fallen hören. Maria beendet ihre Anekdote mit der letzten Aussage der Betreuten: „Naja, Hauptsache gesund!“ Die Stille ist auf einmal durch ehrliches Lachen über die Absurdität dieser Bemerkung gebrochen. Gerade durch ihre direkte offene Art erzeugt Maria eine ungezwungene Ebene, mittels derer sie über ihr Leben spricht. Mal verspielt und lustig, mal ernst und ergriffen, gestaltet sie mithilfe ihrer Pfleger das Stück. Effektvolle Theatermittel, wie Videoprojektionen auf dem Bühnenboden und auf Marias weißem Anzug oder ein riesiger aufblasbarer Ball, finden ihren metaphorischen Ausdruck in der Szenerie. Was sie nicht selbst vorführen kann, lässt sie durch ihre Pfleger darstellen. Sie bittet sie, bestimmte Posen einzunehmen. Posen von schwangeren Frauen, die sich einst mit ihr getroffen haben: „Timmi, in der Hose nach einem Taschentuch kramen und sich die Tränen aus den Augen wischen!“ lautet eine ihrer Regieanweisungen.

„Ich brauche Leute, die ich anleiten kann“ 

Regisseurin ist Maria-Christina nicht nur auf der Bühne. Sie muss es auch im Alltagsleben sein. Alleinsein kann und darf sie nicht. Zu sehr hängt ihr Leben von der Fürsorge ihrer Pfleger, Freunde
und Familie ab. Auch am Aufführungsabend holt der Alltag das Bühnenspiel ein: Maria muss etwas trinken, Admir es ihr anreichen. Abhängigkeit, keine Privatsphäre, keine eigenständigen Handlungen. Die bedrückende Frage pocht im Hinterkopf: Ist das ein lebenswertes Leben?

„Natürlich will ich leben“ 

Keine Sekunde lang war es für Maria-Christina Thema gewesen, den Tod ihrem Leben vorzuziehen. Sie habe schließlich überlebt, sagt sie, den Unfall, das Koma, die Ethikkommission (Lacher im Publikum). Ihr Schicksal, das so vorgesehen war. Und sie nimmt es an. Macht das Beste daraus. Und mehr: Sie ist so selbstbewusst und zufrieden mit ihrem Leben, dass sie nicht tauschen wollen würde. Bewundernswert.

„Nichts liegt auf der Hand“

Zum Leben gehören Risiken. Maria hat die negativen Auswirkungen erfahren müssen. Sie ist zum „Kopfmenschen“ geworden und setzt sich mit ihrem Schicksal auseinander. Dazu gehören auch Themen wie die Euthanasie im Dritten Reich und aktuelle Debatten um Pränataldiagnostik und Designerbabys. Hauptsache rein, Hauptsache gesund. Maria hat mit ihrer Geschichte dennoch bewiesen, dass dazu nicht nur ein intakter Körper zählt. „Qualitätskontrolle“ ist ein starker und emotionaler Beweis dafür, dass unser Leben einen unermesslichen Wert besitzt. Die unmittelbare Konfrontation mit einer Betroffenen schubst den Zuschauer mal mehr und mal weniger sanft vom Hörensagen ins Miterleben ohne dabei voyeuristische Züge anzunehmen. Eine gelungene Zusammenarbeit von „Rimini Protokoll“ und allen Beteiligten!

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